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Im deutschen Wolkenkuckucksheim

Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie ihre Wirtschaft retten können. Nur in Deutschland gilt: Hauptsache, klimaneutral! Wenn schon Untergang, dann auf jeden Fall sauber

Am 14. März 2020 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Warnung. „Achtung Fake News!“, hieß es darin. „Es wird behauptet und rasch verbreitet, die Bundesregierung würde bald weitere massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens ankündigen. Das stimmt nicht! Bitte helfen Sie mit, ihre Verbreitung zu stoppen.“

Als gutwilliger Bürger fragte man sich, wie man dem Appell Folge leisten sollte. Wie stoppt man die Verbreitung von Fake News? Indem man das Gegenteil in Umlauf bringt? Auch das hilft ja leider nicht gegen Falschnachrichten, weil man erst einmal sagen muss, wogegen man ist, um es dann richtigzustellen.

Zum Glück hatte sich das Problem schon zwei Tage später erledigt. Da beschlossen Bund und Länder genau die Einschränkungen, die das Gesundheitsministerium gerade ausgeschlossen hatte.

Ich erinnere mich noch gut an den ersten Lockdown. Als ich mich auf einer Parkbank im Englischen Garten niederlassen wollte, um ein Buch zu lesen, traten zwei Polizisten auf mich zu, weil das Niederlassen auf einer Bank zu Lesezwecken nun als Ordnungswidrigkeit galt. Vermutlich hält man im Bundesgesundheitsministerium den Aufenthalt im Freien ohnehin für überbewertet.

Ich musste an die Warnung aus dem ersten Corona-Jahr denken, als ich vergangene Woche folgenden Anti-Fake-News-Tweet aus dem Bundeswirtschaftsministerium sah:

„Wir haben eines der zuverlässigsten Stromnetze weltweit und eine hohe Versorgungssicherheit. Trotzdem kursieren unter #Blackout, #Stromausfall oder #Lastabwurf Behauptungen im Netz, die unbegründet Panik verbreiten.“ Es folgte eine ausführliche Begründung, weshalb Stromausfälle in Deutschland so gut wie ausgeschlossen seien.

Wir werden sehen, wie lange diese beruhigende Nachricht hält. In jedem Fall würde ich dazu raten, sich doch mit anderen Dienststellen abzustimmen, um unnötige Irritationen zu vermeiden. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenalarm zum Beispiel rief erst vor zwei Wochen zum Anlegen eines zehntägigen Vorrats für den Fall von Stromausfällen auf („Bei der Zusammenstellung Ihres Notvorrats kommt es auch auf eine durchdachte Planung an“).

Es könnte sicher auch nicht schaden, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck einmal seine grüne Parteivorsitzende zur Seite nehmen würde, damit sie in ARD-Interviews nicht weiter den Lastabwurf empfiehlt und so „unbegründet Panik verbreitet“, wie es in der Mitteilung aus seinem Hause heißt.

Wir leben in einem merkwürdigen Zwischenreich. Einerseits kommt uns mit dem Zusammenbruch der Energieversorgung gerade die Grundlage unserer Volkswirtschaft abhanden. Andererseits tut die Regierung so, als ob alles so weiterlaufen könnte, wie im Koalitionsvertrag vereinbart und niedergelegt.

Natürlich gilt weiter das Aus für die Kohle. Vor wenigen Tagen hat Robert Habeck mit RWE eine Vereinbarung geschlossen, wonach der Kohleausstieg nicht aufgeschoben, sondern im Gegenteil um acht Jahre vorgezogen wird – von 2038 auf 2030. Selbstverständlich wird auch am Atomausstieg festgehalten. Und ich bin sicher, wenn man die Verantwortlichen fragen würde, wie es mit dem Plan aussieht, zwei Dutzend neue Gaskraftwerke zu bauen, als Brückentechnologie auf dem Weg in die erneuerbare Zukunft, lautet die Auskunft: alles nach Plan.

Wie soll man das nennen? Deutscher Sonderweg? Kosmisches Gottvertrauen? Überall in Europa denken sie darüber nach, wie sie dafür sorgen können, dass ihre Wirtschaft nicht koppheister geht – nur in Berlin zimmern sie fröhlich weiter am Wolkenkuckucksheim. Es ist faszinierend, aber auch etwas beängstigend.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Energiekrise lautet, kurz gefasst: jetzt erst recht. Also nun erst recht den Ausbau der erneuerbaren Energien forcieren und den Abschied aus dem fossilen Zeitalter vorantreiben. Man kennt das aus Managementseminaren, wo der Motivationstrainer Leuten, denen es den Boden unter den Füßen weggezogen hat, rät, sie sollten die Krise als Chance begreifen. Als Zuschauer sagt man sich da: Arme Teufel, in deren Haut möchte man auch nicht stecken. Leider sind wir in dem Fall alle Teilnehmer des großen Managementexperiments.

©Michael Szyszka

Schon die jetzigen Pläne sind völlig unrealistisch. Der „FAZ“-Redakteur Morten Freidel hat sich neulich die Mühe gemacht, einmal nachzurechnen. Um ihre Ziele zu erreichen, müsste die Regierung jeden Tag vier große oder acht kleine Windräder bauen, und das über die nächsten zehn Jahre. Selbst wenn man auf alle Genehmigungsverfahren von heute auf morgen verzichten würde: Dafür gibt es weder das Material noch die Monteure – von den Kosten gar nicht zu reden.

Und im Jahre 2045, wenn alles ausgestanden ist, weil Deutschland dann endlich klimaneutral ist, wie es die Befürworter erhoffen, ginge es wieder von vorne los. Auch ein Windrad hält nicht ewig. Nach 20 Jahren muss es ersetzt werden. Was bedeutet, dass ein nennenswerter Teil der Volkswirtschaft konstant damit beschäftigt wäre, für den Wind zu sorgen, der das Land am Laufen halten soll.

Ohne ein gewisses Maß an Energieunabhängigkeit wird es nicht gehen, jedenfalls wenn wir Industrienation bleiben wollen. Und die sollte nicht zu lange auf sich warten lassen. Die 200 Milliarden für den Gaspreisdeckel reichen bis Ende kommenden Jahres. Aber dann steht wieder ein Winter vor der Tür. Und danach noch einer. Und dann noch einer.

Wir sind ein reiches Land, das ist die gute Nachricht. Wir sind sogar ein energiereiches Land. Wir verfügen über Gasvorkommen, die uns für 20 Jahre von den Launen des Energiemarktes unabhängig machen könnten. Dummerweise ziehen wir es vor, über diesen Reichtum nicht einmal zu reden. Das meiste Gas liegt in Niedersachsen. Wie man lesen konnte, hat keine Partei im Wahlkampf die Gasvorkommen auch nur mit einem Wort erwähnt. Auch das ist eine Strategie: Umgehung der Realität durch kollektives Beschweigen. Darin haben wir in Deutschland eine gewisse Übung.

Glaubt man den grünen Strategen, ist klar, wer am Wahlerfolg der AfD schuld ist: die CDU, weil ihr Parteivorsitzender vor der Einwanderung in unser Sozialsytem gewarnt hat. Das macht das Leben im Wolkenkuckucksheim so angenehm: Man kann sich immer die Erklärung heraussuchen, die einem am besten passt. Auf den Demonstrationen spielt die Einwanderung hingegen kaum eine Rolle, dort geht es vor allem um Inflation und Energiepreise.

Die Lösung der AfD lautet: Nord Stream 2 aufmachen. Ich bin absolut dagegen. Ich hielte es für einen Riesenfehler, dem Terroristen im Kreml zu signalisieren, dass er machen kann, was er will, solange er uns nur wieder Gas liefert. Aber wenn man gegen Gas aus Russland ist, sollte man eine Alternative nennen können. Die Alternative kann nicht sein, darauf zu hoffen, dass uns die wundersame Umwandlung von Strom in Wasserstoff von allen Beschwernissen erlösen wird.

60 Prozent der Deutschen sagen, dass sie derzeit keiner Partei zutrauen, die Probleme in den Griff zu bekommen, vor denen das Land steht. Ein Rekordwert. Ich weiß, in der Regierung halten sie die Leute für zu blöd, die Weisheit der Energiewende zu erkennen. Aber die Leute sind nicht alle blöd. Sie ahnen: Alles abschalten ist auf Dauer auch keine Lösung.

Der Internationale Währungsfonds hat Mitte der Woche seine Prognose für das kommende Jahr veröffentlicht. Bei keinem Land sieht die Vorhersage so düster aus wie bei Deutschland. Doch bei einem: Russland, da ist es noch schlimmer. Das ist allerdings auch der einzige Trost.

Wäre ich Zyniker, würde ich sagen: Hauptsache, wir halten unsere Klimaziele ein. Wenn schon Untergang, dann wenigstens sauber.

 

Sag den Namen nicht

Die Regierung will, dass jeder Deutsche einmal im Jahr das Geschlecht wechseln darf. Wer bei der Anrede weiter den alten Vornamen benutzt, dem droht ein Bußgeld von 2500 Euro. Woran sich die Frage anschließt: Sind Transmenschen besonders empfindlich?

Ich war neulich bei der FDP in Pullach. Der Vorsitzende des Ortsvereins hatte mich gefragt, ob ich nicht einmal bei den Liberalen auftreten wolle. Ich habe spontan zugesagt. Ich lebe noch nicht so lange im Isartal. Da kann es nicht schaden, neue Bekanntschaften zu knüpfen. Ich würde auch bei den Grünen auftreten. Aber die trauen sich noch nicht so recht, mich einzuladen.

Nach dem Vortrag kam eine Frau mittleren Alters auf mich zu. Sie stellte sich mir als langjähriges FDP-Mitglied vor. Was ich davon hielte, dass der Justizminister aus ihrer Partei dafür gesorgt habe, dass jeder sein Geschlecht einmal im Jahr ändern könne? Sie habe jahrelang für die Sache der Frauen gekämpft. Der Kampf sei nicht immer leicht gewesen. Sie habe sich so manches anhören müssen. Dass es nun in Zukunft keine Rolle mehr spielen solle, ob jemand als Mann oder Frau geboren sei, könne sie nicht verstehen.

Ich musste gestehen, dass ich ebenfalls ratlos bin. Ich weiß nicht, was die FDP dazu bringt, ausgerechnet in der Gesellschaftspolitik gemeinsame Sache mit den Grünen zu machen. Vielleicht ist man es leid, dass alle in den Medien ständig auf einem rumhacken, und hofft jetzt, mal etwas Nettes über sich zu lesen, wenn man sich als besonders fortschrittlich gibt.

Möglicherweise glauben sie in der Parteispitze auch wirklich, dass es ein himmelschreiendes Unrecht ist, wenn Menschen nicht so oft ihr Geschlecht wechseln können, wie sie das wollen. Statt freie Fahrt für freie Bürger jetzt also freie Geschlechtswahl für die Freunde der Freiheit. Ich kann nur sagen: An der Basis kommt der Beschluss eher mittelprächtig an.

Was bei der Grünen-Jugend ein Renner ist, muss nicht zwingend ein bürgerliches Publikum überzeugen. Wenn die Leute hören, dass ursprünglich schon 14-Jährige die Möglichkeit haben sollten, ihr Geschlecht zu wechseln, notfalls sogar gegen den Willen der Eltern, sinkt die Zustimmung in der Mitte der Gesellschaft gegen null.

Jeder, der Kinder im pubertären Alter hat, weiß, welche Zwangsvorstellungen Jugendliche ausbilden können. Einige halten sich plötzlich für zu dick. Andere für zu hässlich. Die dritten wollen ihre Haut mit der Tattoonadel malträtieren oder ihre Ohrläppchen zur Bohrung von Tunneln nutzen, durch die anschließend ein Pfeifendeckel passt.

Zum Glück wächst sich das meiste aus. Viele Torheiten lassen sich später wieder korrigieren. Die Folgen von Pubertätsblockern, wie sie bei der Geschlechtsangleichung verschrieben werden, lassen sich irgendwann nicht mehr revidieren. Die Veränderung ist unwiderruflich, deswegen ist bislang ja die Empfehlung eines Arztes Pflicht. Auch das soll sich nach dem Willen der Transaktivisten ändern.

Wenn jemand beschließt, künftig unter einem neuen Namen durchs Leben zu gehen, klar, warum nicht? Der „Stern“ hatte mal einen Redakteur namens Hollow Skai. Er hieß eigentlich Holger Poscich, wie ich später erfuhr. Aber alle Welt nannte ihn Hollow Skai – die Kollegen, die Freunde, der Name fand sogar Eingang ins „Stern“-Impressum.

Wenn der gute Mann eines Tages das Zeitliche segnen sollte, wird sich auf seinem Grabstein der Name eines indianischen Häuptlings finden. Heute ginge das nicht mehr so leicht durch, wegen kultureller Aneignung und so. Als ich mit dem Journalismus anfing, akzeptierte man das noch als Punk.

Wenn ich mich nicht täusche, wird es nicht beim Recht auf den jährlichen Geschlechts- und damit Namenswechsel bleiben. In Nordrhein-Westfalen wird jetzt eine Stelle eingerichtet, bei der man sich melden kann, wenn man Transfeindlichkeit wittert. Alles unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit soll hier zur Anzeige gebracht werden, so hat es die neue Familienministerin in Düsseldorf erklärt. Was wird da gemeldet? Beleidigungen oder Herabwürdigungen ziehen ja heute schon Strafen nach sich, das kann also nicht gemeint sein.

Wie man weiß, ist die Community enorm empfindlich. Einmal aus Versehen den alten Vornamen genannt, und man gilt als transphob. Oder schlimmer noch: als jemand, der Transmenschen die Existenz abspricht. Die Bundesregierung überlegt, ob sie das sogenannte Deadnaming unter Strafe stellen soll. 2500 Euro Bußgeld für jeden, der eine Transperson fahrlässig mit dem Geburtsnamen anspricht.

Ich halte es für eine Frage der Höflichkeit, dass man jemanden so anredet, wie er es als wünschenswert empfindet. Ich nehme auch Rücksicht auf Adels- und Professorentitel, ohne im Einzelnen zu prüfen, ob der Träger über alle nötigen Diplome und Stammbäume verfügt. Aber dass man jemanden auslöscht, weil man ihn falsch anspricht? Das erscheint mir doch etwas weit hergeholt.

Inwieweit ist die Gesellschaft für das persönliche Lebensglück oder -unglück verantwortlich? Das ist die Frage. Hormone schlagen auf die Stimmung. Was man an Medikamenten zu sich nehmen muss, um als Mann dauerhaft den Testosteronspiegel zu senken, ist keine Kleinigkeit. Das bringt vieles durcheinander, möglicherweise auch die innere Balance.

Im Netz bin ich auf den Eintrag einer Frau gestoßen, warum sie vieles aus der Transszene an die Beziehung zu einem narzisstischen Mann erinnere, aus der sie sich mühsam gelöst habe. Der Aufhänger war der Fall einer Musikgruppe, die sich gezwungen sah, eine ausführliche Erklärung abzugeben, weil einer der Musiker, ein Transmann, die Band verlassen hatte.

Die Musikerinnen machten sich große Vorwürfe, dass sie nicht genug Rücksicht genommen hätten. Sie hätten sich vorgenommen, sich komplett um ihren Kollegen und seine Bedürfnisse zu kümmern. Aber sie hätten ihn enttäuscht. Sie kenne das zur Genüge, schrieb darauf die Frau, die sich im Netz Frau Mond nennt: Die Selbstvorwürfe, nie genug getan zu haben, das Gefühl, ständig auf Eierschalen laufen zu müssen, weil ein falsches Wort reiche, um alles zum Einsturz zu bringen.

Wie würde ich reagieren, wenn mein Sohn mir im Alter von 14 Jahren sagen würde, er sei trans? Ich wäre im ersten Moment besorgt. Nicht weil ich denken würde, man könne als Transperson kein glückliches Leben führen. Ich hätte Sorge, dass der Weg dahin schwer wird. Als Elternteil möchte man sein Kind vor allem schützen, was ihm Leid zufügen könnte.

Ich würde meinem Sohn raten, erst mal auszuprobieren, wie das Leben als Mädchen so ist, bevor er etwas tut, was sich nicht mehr ändern lässt. Wenn sich herausstellen sollte, dass es ihm wirklich ernst ist mit dem Geschlechterwechsel, würde ich ihn auf dem Weg begleiten. Ich vermute aber, dass ich weiterhin Zweifel hätte, ob es Meldestellen braucht, bei denen man transfeindliches Verhalten anzeigen kann, oder eine spezielle Gesetzgebung, die es verbietet, jemanden bei seinem alten Namen zu nennen.

Die meisten Eltern machen sich viele Gedanken bei dem Namen, dem sie ihrem Kind geben. Wenn ihre Tochter oder ihr Sohn ihn später ablegen will, ist das der Lauf der Dinge. Aber warum den Namen, den die Eltern ausgesucht haben, so behandeln, als sei er etwas, wofür man sich schämen muss? Er ist mit vielen Erinnerungen verbunden, hoffentlich auch einigen sehr schönen. Ich halte es immer für falsch, wenn man an einem bestimmten Punkt seines Lebens meint, alles hinter sich lassen zu müssen, was einem nicht mehr gefällt.

©Sören Kunz

Apokalypse und Filterkaffee

Die Parteien überschlagen sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern beistehen könne. Noch mehr als Putin fürchten sie in Berlin den Zorn der Straße. Was, so die bange Frage, wenn der Deutsche wieder andere Seiten aufzieht

Kein Bürger werde alleingelassen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt. Das sollte vermutlich beruhigend wirken. Bei mir löst eine solche Ankündigung eher Beklemmung aus. Ich mag es nicht, wenn man mir zu sehr auf die Pelle rückt, erst recht nicht von Staats wegen.

In allen Parteien überschlagen sie sich mit Vorschlägen, wie man den Bürgern in der Krise beistehen könne. Die SPD will Hilfen für Mieter durchsetzen, die ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen können. Weil der schwarze Peter dann bei den Vermietern hängen bleibt, soll den Vermietern selbstverständlich ebenfalls geholfen werden.

Die CDU hat eine Verlängerung des Tankrabatts sowie ein verbilligtes Bahn-Ticket ins Programm aufgenommen. Die Grünen würden am liebsten die Kündigung von Mietern ganz aussetzen. Moratorium nennen sie das, was nur der erste Schritt hin zu einem dauerhaften Kündigungsschutz sein kann. Die einzige Partei, die keine neuen Hilfen verspricht, ist die FDP. Sie will stattdessen zur Schuldenbremse zurück. Vielleicht liegt sie deshalb in den Umfragen so weit hinten.

Das Blöde an Steuergeschenken ist, dass auch für sie jemand bezahlen muss. Dieses ökonomische Gesetz kann selbst die beste sozialstaatliche Förderung nicht außer Kraft setzen. Da es nicht die Politiker sind, die für die Entlastungen geradestehen, die sie versprechen, müssen andere ran, im Zweifel die Leute, die gerade beschenkt wurden.

Die Zustimmung zum Sozialstaat beruht nicht zuletzt auf der Illusion, dass man zu den Gewinnern zählt. Auf die eine oder andere Weise profitiert fast jeder von seinen Segnungen. Da verbilligte Operntickets ebenso zum Angebot zählen wie VHS-Kurse, in denen man in die Kunst des sanften Atmens eingewiesen wird, ist es für viele gar nicht so einfach zu sagen, ob sie am Ende nun draufzahlen oder nicht.

Jetzt geht es also gegen die Gaskrise. Niemanden im Stich lassen zu wollen klingt nobel. Was ist gegen Hilfe in der Not zu sagen? Wenn man genau hinhört, durchzieht die Ankündigungen allerdings ein weiteres Motiv: eine klammheimliche Angst vor dem Bürger. Noch mehr als Wladimir Putin scheinen sie in Berlin den Zorn der Straße zu fürchten. Von der Fürsorge zum Versuch der Ruhigstellung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt.

Unsere Innenministerin Nancy Faeser hat es offen ausgesprochen, als sie vor Protesten wegen steigender Energiepreise warnte. In der Corona-Zeit hätten Menschen zusammen mit Rechtsextremisten ihre Verachtung für die Demokratie rausgebrüllt, sagte sie. Diese Gefahr bestehe wieder. Der thüringische Verfassungsschutz-Chef spricht von Aufmärschen, gegen die alle Corona-Demos ein „Kindergeburtstag“ gewesen seien.

Ungeklärt ist noch die Frage, wie jemand heißt, der Anstoß an ständig steigenden Heizkosten nimmt. Energieleugner? Wobei, die Energiepreisleugner sitzen ja eher im Lager derjenigen, die bis vor Kurzem jede Inflationsgefahr bestritten. Also vielleicht: Energiewendequerdenker. Das klingt hinreichend bedrohlich.

Es ist eigenartig: Auf der einen Seite sehen wir uns als eine der fortschrittlichsten Nationen der Welt. Gerade erst hat die Bundesregierung unter großem Beifall ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach man einmal im Jahr das Geschlecht wechseln kann. Seinen Nachnamen ändern zu lassen ist in Deutschland in Zukunft schwieriger als die Überwindung der Biologie. Andererseits gelten wir Deutsche als latent rückfallgefährdet. Kaum droht im Winter die Heizung kalt zu bleiben und schon marschieren auf den Meinungsspalten die braunen Horden durchs Brandenburger Tor.

Lauert unter der Oberfläche das Böse? Wartet der Nazi in uns nur darauf, wieder durchzubrechen? Das ist die große Frage. Der Politologe Herfried Münkler, mit dem ich die Tage zum Mittagessen zusammensaß, unterscheidet drei Wege, wie sich offen revisionistische Mächte einhegen lassen: Appeasement, Abschreckung und Agressionsabbau durch Wohlstandszuwachs.

Deutschland war auf dem dritten Weg spektakulär erfolgreich. Je dicker und zufriedener die Leute nach dem Zweiten Weltkrieg wurden, desto demokratischer wurden sie auch. Aber damit bleibt natürlich der Verdacht, dass die Deutschen die Demokratie nicht um ihrer selbst lieben, sondern weil sie sich Vorteile versprachen. Das verleiht der Diskussion um den Gasnotstand ihren existenzialistischen Touch: Was, wenn der Wohlstand schrumpft? Schrumpft dann auch die Demokratietreue?

Ich habe die Diskussion in anderen europäischen Ländern nicht so genau verfolgt. Aber mein Eindruck ist, dort nimmt man die Krise mit größerer Gelassenheit. Ein Freund, der vor zwei Wochen seinen Schreibtisch in München mit dem Balkon am Lago Maggiore tauschte, berichtet, dass die Gasknappheit in den italienischen Zeitungen kein großes Thema sei. Auch in Paris oder Amsterdam ist die Lage vergleichsweise ruhig.

Ist es schlau, dass unsere Regierungsvertreter jeden Tag über ihre Ängste sprechen? Ich habe da meine Zweifel. Wie man sieht, fühlt sich Putin durch das sorgenvolle Händeringen, wie schlecht wir ohne sein Gas dastünden, ermuntert, uns unsere Abhängigkeit jede Woche aufs Neue vor Augen zu führen. Mal gibt es 40 Prozent der zugesicherten Gasmenge. Dann gar nichts mehr. Dann wieder etwas. Dann nur noch 20 Prozent. Man kennt das aus dem Tierreich. Es gibt Hunderassen, die erst recht zubeißen, wenn ihnen ein Tier die Kehle zeigt.

Auch im Hinblick auf die innenpolitische Lage scheint es mir nicht besonders klug, Alarmstimmung zu verbreiten. Wenn man als Politiker ständig davon redet, dass die Leute revoltieren könnten, sagen sie sich irgendwann: Dann lass uns das doch mal versuchen.

In Wahrheit misstraut die Politik dem Bürger, deshalb die fürsorgliche Belagerung. Sie hält ihn für ein Mängelwesen, politisch ungefestigt und in Alltagsdingen überfordert.

Der Bürger, wie ihn die Politik sieht, isst und trinkt zu viel. Er arbeitet bis zum Burnout und guckt Fernsehsendungen, die ihn verdummen. Im Supermarkt ist er total aufgeschmissen, weil die Auswahl immer größer wird und er alles für bare Münze nimmt, was ihm die Werbung sagt. Natürlich ist er auch leicht verführbar durch einfache Antworten, wie die Schalmeienklänge der Populisten heißen. Der Politikbetrieb spricht vom „verletzlichen Verbraucher“. Lässt sich ein schöneres Wort für den Gegenentwurf zum mündigen Bürger denken?

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat angeregt, die Deutschen sollten länger arbeiten, um sich ihren Wohlstand zu erhalten. Es gab sofort Protest. Aber ich glaube, viele wissen insgeheim, dass er recht hat. Am Anfang des deutschen Wirtschaftswunders, das uns zu guten Demokraten gemacht hat, stand nicht die 35-Stunden-Woche, sondern eine kollektive Kraftanstrengung. Das haben außerhalb der Sozialverbände noch nicht alle vergessen.

Wer weiß, vielleicht sind die Deutschen robuster, als viele Politiker denken. Klar, wir müssen dankbar sein, dass wir nach dem Krieg so gründlich pazifiziert wurden, dass heute schon der Ausfall der Klimaanlage im ICE den Anwalt auf den Plan ruft. Aber könnten wir uns nicht ein kleines bisschen auf den Durchhaltewillen besinnen, den diese Nation einmal auszeichnete? Nur vorübergehend, im Streckbetrieb sozusagen, bis die kalten Monate vorbei sind und in Wilhelmshaven endlich das erste Flüssiggasterminal steht?

Wir müssen ja nicht gleich wieder bis nach Stalingrad durchmarschieren. Zwei Pullover übereinander und die Heizung bei 18 Grad, das würde für den Anfang reichen.

©Silke Werzinger

Ich fühle, was ich bin

FDP und Grüne haben ein Gesetz vorbereitet, dass es jedem erlauben soll, sein Geschlecht selbst zu bestimmen. Warum dabei stehen bleiben? Warum nicht auch Hautfarbe und Alter zu einer Frage der Selbstdefinition machen?

Haben Sie sich schon einmal gewünscht, jemand ganz anderer zu sein? Viele Menschen wären gerne reicher oder schöner, aber das meine ich nicht. Ich rede davon, dass man seine Identität wechselt.

Es gibt Menschen, die sich das wünschen. Die zum Beispiel gerne schwarz wären, obwohl sie weiß sind. Oder die nicht länger ein Mann oder eine Frau sein wollen, sondern irgendetwas dazwischen. Oder die am liebsten jüdisch wären.

Der Schriftsteller Max Czollek ist so ein Fall. Er möchte als jüdischer Intellektueller gelten, das ist ihm ganz wichtig. Czollek ist in Ostberlin geboren. Sein Großvater, der jüdische Verleger Walter Czollek, war im kommunistischen Widerstand. Der junge Czollek hat daraus eine Art Trademark gemacht. „Max Czollek ist dreißig, jüdisch und wütend“, so wirbt der Hanser Verlag für ihn.

Das Problem ist, wer als Jude gilt und wer nicht, ist im Judentum klar geregelt. Um ein Jude zu sein, muss man entweder eine jüdische Mutter haben oder zum Rabbi gehen, der einem dann, wenn man sich beim Studium der jüdischen Schriften und Gebräuche sehr angestrengt hat, mit etwas Glück den Übertritt erlaubt. Großvater reicht hier nicht, da kann der noch so berühmt gewesen sein.

Deshalb stand Czollek auch ziemlich blamiert da, als herauskam, dass es die jüdische Mutter, die irgendwo im Hintergrund herumspukte, nie gegeben hat. Der Schriftsteller Maxim Biller verspottete ihn als „Faschingsjude“. Der Zentralrat der Juden erklärte, dass Czollek gerne weiterhin als Publizist firmieren könne, aber eben nicht als jüdischer Publizist. Da half auch eine Ehrenerklärung von 278 „Kulturschaffenden“ nichts, die sich mit Czollek „solidarisch“ erklärten. Wer die Versklavung durch die Ägypter, die Babylonier und die Römer überlebt hat, der übersteht sogar eine Solidaritätserklärung von 278 deutschen Intellektuellen.

Ich erzähle das, weil Czollek einen raffinierten Weg gefunden hat, die Sache zu seinen Gunsten zurechtzubiegen. Er definiert Judentum einfach um. Nach seiner Lesart ist Jüdischsein eine Frage des politischen Bewusstseins und damit der Geisteshaltung. Die religiösen Autoritäten seien gar nicht die richtige Instanz, um darüber zu befinden, wer jüdisch sei und wer nicht, sagt er in einem Interview, das der „Spiegel“ mit ihm geführt hat. Es sei genügend Platz für alle da.

Nach dieser Definition würde sich die Zahl der Juden in Deutschland schlagartig verdoppeln. Welcher Deutsche hat nicht irgendwo in seiner Genealogie noch einen jüdischen Vorfahren versteckt, auf den er sich beziehen könnte? Nach den Czollek-Kriterien hätten wir auch einen jüdischen Bundeskanzler gehabt, ohne es zu wissen. Helmut Schmidt hatte ebenfalls einen Großvater jüdischen Glaubens. Schmidt hat darüber kaum gesprochen, aber die Sache ist eindeutig.

Identität ist eine große Sache. Viele sind auf der Suche nach etwas, was sie von anderen unterscheidet und ihnen einen besonderen Platz in der Gesellschaft verschafft. Lange ging man davon aus, dass die Zugehörigkeit qua Geburt eine relativ unveränderliche Größe sei. Herkunft kann man sich bekanntlich nicht aussuchen. Aber damit ist es vorbei. Die neuere Theorie besagt, dass nicht so sehr entscheidend ist, wo man herkommt, sondern vielmehr, wo man sich zugehörig fühlt.

Am weitesten gediehen ist der Wechsel von der Identität als Schicksal zur Identität als Wahloption an der Geschlechterfront. Grüne und FDP haben ein Gesetz vorbereitet, dass es jedem Bundesbürger erlauben soll, sein Geschlecht selbst zu bestimmen, frei von lästigen Fragen oder gar der Erfordernis medizinischer Gutachten. Im ersten Anlauf sind die beiden künftigen Regierungsparteien damit noch am Widerstand der Union gescheitert. Aber man darf sicher sein, dass der Gesetzentwurf schon im nächsten Jahr zur Wiedervorlage kommt.

Wenn scheinbar unveränderliche Herkunftsmerkmale wie das Geschlecht zu einer Frage der Selbstdefinition werden, hat das Folgen. Die Frauenzeitschrift „Emma“ berichtete im September über den Fall eines Mannes – verheiratet, zwei Kinder –, der bei der Wahl zum Vorstand im Kreisverband der Grünen in Reutlingen auf einem der Frauenplätze kandidierte.

Der Familienvater hatte sich auf das Grundsatzprogramm der Grünen berufen, in dem steht, dass alle Menschen ausschließlich selbst das Recht hätten, ihr Geschlecht zu definieren. „Dort steht nicht, wer sich glaubwürdig und plausibel als Frau präsentiert, gilt als Frau“, hielt er seinen Parteifreunden entgegen. „Es steht dort auch nicht: Wer Perücke und Kleid trägt, darf sich als Frau verstehen.“ Der Argumentation mochte sich niemand verschließen, der Kandidatur wurde stattgegeben.

Wenn man die Sache weiterdenkt, eröffnen sich faszinierende Aussichten. Es liegt nahe, die Selbstdefinition auch auf ethnische Herkunft und Hautfarbe auszuweiten. Warum sich nicht als „non-race“ bezeichnen, so wie man sich heute schon als „non-binär“ identifiziert? Wer die Fesseln der Biologie überwindet, für den sollte auch die Befreiung von einer so zweifelhaften Kategorie wie Rasse kein Problem sein. Doch da wollen interessanterweise selbst die verständnisvollsten Aktivisten nicht mitgehen.

Als ich 2015 länger in den USA war, machte die Geschichte von Rachel Dolezal Schlagzeilen, der Vorsitzenden einer schwarzen Bürgerrechtsvereinigung, die nicht schwarz war, wie alle annahmen, sondern weiß. Rachel Dolezal war nicht nur als Schwarze aufgetreten, sie hatte sich auch optisch auf den Weg der Transformation begeben. Sie hatte ihre Haare zu einem Afrolook gestylt und das Gesicht mit viel Make-up dunkel getönt.

Die Enthüllung traf mit einem anderen Outing zusammen, dem des ehemaligen Zehnkämpfers Bruce Jenner als Transfrau. Während die Öffentlichkeit bei Jenner begeistert war über den Mut und die Kühnheit, fielen die Beurteilungen im Fall Dolezal vernichtend aus. Die Frau hat, soweit ich das sehe, nie wieder ein Bein auf den Boden bekommen.

Was braucht es, um die Rassengrenze zu überwinden? Ich hatte dazu eine interessante Diskussion mit dem Journalisten Malcolm Ohanwe. Ohanwe hat nigerianische Wurzeln, wie man so schön sagt. Außerdem ist er einer der Produzenten der „Kanakischen Welle“, eines Podcasts zu migrantischen Themen, zu dem er mich vor ein paar Tagen als Gast eingeladen hatte.

Warum sich nicht auch als „trans-race“ bezeichnen, fragte ich ihn bei der Gelegenheit. Er dachte kurz nach. Solange das nicht als Witz gemeint sei, müsse man darüber reden, sagte er. Die Voraussetzung sei allerdings, dass man sich wirklich auf den Weg gemacht habe, dass man also zeige, dass man es ernst meine mit dem Übertritt und dann auch die Diskriminierungserfahrungen erleide, die andere Schwarze erleiden würden.

Mir stand sofort der Fall Dolezal vor Augen. Ich stellte mir vor, wie ich mir das Gesicht schwarz schminke und eine Perücke aufsetze. Ich habe den Gedanken lieber schnell wieder verworfen. Das klang für mich gefährlich nach Blackfacing. Aber wer weiß, vielleicht werden Rachel Dolezal und alle, die ihr nachfolgen, schon in wenigen Jahren als Pioniere der Trans-Black-Bewegung gefeiert werden.

Das Landessozialgericht Niedersachsen hat sich dieser Tage mit dem Fall eines Mannes zu befassen gehabt, der sein Alter mit 102 Jahren angegeben und Rente beantragt hatte. Der Fall landete vor Gericht, weil die Rentenversicherung darauf bestand, dass der Antragsteller seinem Versicherungskonto zufolge erst 48 Jahre alt sei. Das Gericht folgte der Argumentation der Rentenversicherung und lehnte den Antrag als unbegründet ab, ungeachtet der Tatsache, dass der Mann eine eidesstattliche Versicherung seines Alters sowie eine selbst verfasste Geburtsbescheinigung beibringen konnte.

Warum bei Hautfarbe, Geschlecht oder Judentum halt machen? Warum nicht auch das Alter zu einer Frage der Einfühlung machen? Ich sehe einen goldenen Weg aus vielen Kalamitäten.

©Michael Szyszka

Weisheit der Straße

Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für einen Kandidaten entscheiden?

Anfang der Woche kündigte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Live-Gespräche mit den Spitzenkandidaten der Parteien an. „Damit Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich vor der Wahl eine umfassende Meinung bilden können, hat die F.A.Z. ein neues Format ins Leben gerufen“, hieß es in einem Schreiben an die Abonnenten. „In vier Veranstaltungen stellen wir den Kandidaten Fragen zu Programmen, Auftreten und aktuellen Entwicklungen, die Sie gerne vorab einreichen können.“

Den Auftakt machte am Mittwoch Armin Laschet, der Kanzlerkandidat der Union. In den nächsten Wochen folgen FDP-Chef Christian Lindner, der SPD-Kandidat Olaf Scholz und für die Grünen der Parteivorsitzende Robert Habeck. Moment, wird sich jetzt der eine oder andere sagen: Was ist denn das für eine Auswahl? Das geht ja gar nicht: eine reine Männerrunde. Die Grünen haben doch extra eine Spitzenkandidatin benannt, um sicherzustellen, dass auf Angela Merkel wieder eine Frau im Kanzleramt folgt.

Wie sich herausstellte, hatten die Grünen in letzter Minute Robert Habeck als Spitzenkandidaten benannt. Auf Angela Merkel geht die Erfindung der asymmetrischen Demobilisierung zurück, also der Langeweile als Wahlkampf-Mittel, um die Leute so zu ermüden, dass sie ihr Kreuz da setzen, wo sie es immer gesetzt haben. Die Grünen sind jetzt noch einen Schritt weiter: Sie machen ihre Kanzlerkandidatin einfach unsichtbar. Wer nicht mehr auftaucht, kann auch nichts Falsches mehr sagen.

Allenthalben wird über den Wahlkampf geklagt: zu wenig Inhalt, zu wenig Debatte, statt den großen Zukunftsfragen nur Nicklichkeiten und Klein-Klein. Täglich bombardieren einen die Medien mit neuen Hiobsbotschaften von der Klima- front. Und worüber streiten die Wahlkämpfer? Die religiöse Überzeugung von Laschets Spindoktor und die Irregularitäten bei Baerbocks Stipendium!

Als vorläufiger Tiefpunkt gilt ein ZDF-Sommerinterview mit Habeck. Einige besonders enthusiastische Beobachter maßen mit Stoppuhr in der Hand, wie lange die ZDF-Redakteurin den Parteivorsitzenden zu den Problemen des grünen Wahlkampfs befragte, statt zu den wirklich drängenden Fragen vorzustoßen (den Klimawandel und, nun ja, den Klimawandel). Die Uhr hielt bei 9:20 Minuten.

„Aktivismus für das Weiter-So“ beziehungsweise „Parteilichkeit für die Verdrängung“, nannte der stellvertretende Chefredakteur der „Zeit“, Bernd Ulrich, die kritische Befragung, worauf sich die angegriffene Redakteurin genötigt sah, ihre Interviewführung in einer Selbsterklärung zu rechtfertigen.

Was Aktivismus angeht, kennt sich Ulrich aus, sollte man vielleicht dazu sagen. Der Mann hat gerade gemeinsam mit Deutschlands führender Klimaaktivistin, der Grünen Luisa Neubauer, ein Buch in den Handel gebracht. Dass Journalisten den Drang verspüren, sich der guten Sache zu verschreiben, kennt man. Dass ein leitender Redakteur der „Zeit“ im Wahlkampf mit einer von ihm favorisierten Lobbyistin über die ideelle auch eine finanzielle Verwertungsgemeinschaft begründet, darf man als Neuerung sehen. So gesehen hält der Wahlkampf doch Überraschungen bereit.

Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis machen. Es mag furchtbar oberflächlich erscheinen, aber mich interessiert die Frage, weshalb man bei den Grünen nicht Indianerhäuptling sagen darf, wie es sich mit Annalena Baerbocks Ausbildung verhält oder warum Armin Laschet auf Fotos immer eine so unglückliche Figur macht, mindestens so sehr wie die Vorschläge zur Lösung der Klimakrise.

Die Lösung kenne ich ja im Zweifel. Nach den Kernkraftwerken werden alle Kohle- und Gaskraftwerke abgeschaltet sowie ein Großteil der deutschen Autokonzerne lahmgelegt, damit Deutschland zum Klimaschutzstar aufsteigt. Vor dem dann wiederum die Chinesen bewundernd den Hut ziehen und sich sagen: „Wir lassen uns doch von den Deutschen bei der Energiewende nicht den Schneid abkaufen. Wenn die ihre Kohlekraft- werke ab 2030 stilllegen, dann ma-chen wir das schon nächstes Jahr!“

Nur weil sich Journalisten rasend für Politik interessieren, heißt das noch nicht, dass auch die normalen Leute das tun. Viele haben gar nicht die Zeit dafür. Nicht mal ein Prozent der Wähler hat einen Blick ins Wahlprogramm geworfen, bevor sie die Wahlkabine betreten. Die Zahl habe ich von Paul Ziemiak, dem Generalsekretär der CDU, und der muss es wissen.

Auch die Bekanntheit von Politikern wird gnadenlos überschätzt. Der „Spiegel“ hat einmal für einen Wissenstest nach den Namen der deutschen Ministerpräsidenten gefragt. Über 40 Prozent der Hessen konnten nicht sagen, wie ihr Regierungschef heißt. In Hamburg waren 50 Prozent ahnungslos, was den Namen des Stadtoberhauptes angeht. Am besten schnitt Horst Seehofer ab. Den konnte eine deutliche Mehrheit der Bayern auf Nachfrage als den Mann benennen, der sie regiert. Da war er allerdings schon als Bundesinnenminister nach Berlin gewechselt.

Normalerweise fällt es nicht so auf, wie unbekannt viele Politiker sind, weil man den Befragten am Telefon Namen und Funktion nennt, wenn man ihre Meinung in Erfahrung bringen will. Man nennt das „gestützte Umfragen“. Trotz der Hilfestellung (und der menschlichen Eigenschaft, Wissenslücken nicht freiwillig zu offenbaren) ist auch hier der Anteil der Unwissenden erstaunlich hoch.

Bei der berühmten „Spiegel“-Treppe, auf der Politiker nach Beliebtheit aufgereiht sind, sagten zum Jahreswechsel bei Heiko Maas 14 Prozent der Befragten, dieser Politiker sei ihnen unbekannt. Bei Olaf Scholz waren es 11 Prozent, bei Annalena Baerbock: 39 Prozent. Es dauert halt wahnsinnig lange, bis man sich als Politiker einen Namen gemacht hat. Deshalb hänge ich als Kolumnist ja auch so an bekannten Gesichtern. Der Tag, als Claudia Roth in die zweite Reihe verschwand, war für mich Karfreitag und Volkstrauertag in einem.

Wenn über ein Drittel der Wähler zu Beginn des Wahlkampfs keinen Schimmer hat, wen die Grünen da als Spitzenkandidatin ins Rennen geschickt haben, ahnt man, wie viel bis September noch in Bewegung ist. Erfolg und Misserfolg in den Umfragen sind zum Gutteil eine Frage des Timings, deshalb liegen sie auch so oft daneben.

Wonach entscheiden die Leute also, wenn sie sich für eine Partei oder einen Kandidaten entscheiden? Die großen Themen sind es jedenfalls nicht, auch wenn in den Zeitungen gerne das Gegenteil behauptet wird. Wofür Parteien wie die CDU oder die Grünen stehen, ist den meisten mehr oder weniger bekannt. Das ist der Vorteil an eingeführten Marken. Der Blick richtet sich auf den Mann oder die Frau an der Spitze. Das ist die große Unbekannte.

Wäre ich bei den Grünen, würde ich mir auch wün-schen, die Journalisten würden endlich aufhören, nach den Flunkereien oder Pannen im Wahlkampf zu fragen. Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die wissen möchten, was für eine Person das ist, die sagt, dass sie das Land regieren will.

Für die großen politischen Fragen mag es unerheblich sein, ob Annalena Baerbock ihren Lebenslauf geschönt hat oder Armin Laschet im falschen Moment lacht. Aber um sich ein Bild von den Menschen zu machen, die sich anschicken, das Kanzleramt zu übernehmen, können solche scheinbar nebensächlichen Begebenheiten durchaus hilfreich sein. Es sind manchmal die kleinen Gesten, die einen Blick hinter die sorgfältig kultivierte Fassade erlauben.

Ist es ungerecht, jemanden nach einem Fehlgriff oder einer unbedachten Äußerung zu beurteilen? Natürlich ist es das. Aber ist es besser, den Strategen und Beratern zu vertrauen, die ein möglichst perfektes Bild von ihrem Kandidaten zu zeichnen versuchen? Gegen die Welt der Plakate und hehren Versprechungen hilft manchmal nur der genaue Blick auf die Abweichung. Man kann das die Weisheit der Straße nennen.

©MICHAEL SZYSZKA